Dies ist eine dieser Geschichten, die einen ratlos zurücklassen. Chyna ist tot, das neunte Weltwunder gefallen. Gerade einmal 46 Jahre alt wurde Joan Marie Laurer, die in ihrem Leben eigentlich nur akzeptiert werden wollte. Chyna hat uns nicht nur in der WWE gezeigt, dass Abweichung von der Norm Großes bewirken kann. Leider fiel sie abseits des Rings immer tiefer durch das tückische Wechselspiel von Alltagsproblemen, psychischen Erkrankungen und Rauschmitteln. Hier ist die Geschichte vom Leben und Sterben Joanie Laurers, der eine feste Stütze im Leben fehlte.
Auf YouTube existiert ein ungelistetes Video, in dem ein kahlköpfiger Mann von einer Jacht wie choreographiert die Asche der Frau ins Meer verstreut, die wir nur als Chyna in Erinnerung haben. Chyna, das neunte Weltwunder, die erste Frau im Royal Rumble, die erste Frau im King of the Ring Turnier und die erste weibliche Intercontinental-Champion. All das ist nun bedeutungslos. Neben ihrem Manager und seinen vier Kindern befinden sich auf Joanie Laurers letzter Reise noch ein ehemaliger Lebenspartner, den sie über ein Jahrzehnt nicht gesehen hat, zwei Mitglieder ihres Social-Media-Teams, die sie überhaupt noch nie getroffen hat und natürlich der Priester, der seine Gebete von einer Karte abliest. Hier verlässt im April 2016 eine Frau diese Welt, die trotz all ihrer Erfolge im Leben nie richtig ankam. Wenige Stunden vor ihrem Tod trank sie einen Spinat-Smoothie auf ihrem YouTube-Kanal, wo sie erneut um Anerkennung kämpfte.
Das Leben von Joanie Laurer ändert sich in dem Moment, als sie 1996 in einer Bar auf Triple H und Shawn Michaels trifft. Die beiden sind überzeugt von Chynas Wrestlingskills, die sie beim legendären Killer Kowalski erlernt hat, und möchten sie gerne als Bodyguard von D-Generation X in die Shows bringen. Vince McMahon ist dagegen, weil er sich nicht vorstellen kann, dass die Zuschauer eine Frau als Enforcer für Männer annehmen würden. Laurer erhält praktisch zeitgleich das Angebot, in der WCW als erstes weibliches Mitglied der nWo zu debütieren. Vince erfährt davon und engagiert sie spontan doch, um sie nicht der Konkurrenz zu überlassen. Sohn Shane, nicht Vince selber, überbringt ihr die Botschaft.
Kurze Zeit später wird ihr von Vince McMahon der Name Chyna gegeben in ironischer Anspielung an „fine china“, also Porzellan, das sehr zart ist und schnell zerbricht. Im Nachhinein klingt dies wie Hohn. Wie zart und zerbrechlich sie wirklich war, hat sie immer versteckt. Chyna wird zu einem der großen Stars der Attitude Era, genießt eine hohe Popularität bei den Fans, bleibt aber selbst innerhalb von DX trotz aller Dominanz das entbehrlichste Mitglied. In die Frauendivision, deren Titel sie nur einmal hält, wird sie nie richtig integriert, weil sie hierfür zu dominant ist. Zu unzerbrechlich. Bei den Männern ein Freak, für die Frauen zu männlich – wo sollte sie hin?
Die täglichen Machtkämpfe im Wrestlingbusiness sind das eine, persönliche Probleme das andere. Davon hatte Joanie eine Menge. Schon mit 16 Jahren wurde sie von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt, sah sie erst 30 Jahre später wieder. Heute würde man von einem „Problemkind“ sprechen. 2006 brach sie den Kontakt zu ihrer Schwester ab, weil diese ihr eine Drogentherapie vorgeschlagen hatte. Wie das Huhn und das Ei lässt sich im Nachhinein nicht herausfinden, was zuerst da war: die privaten Probleme, die psychischen Störungen oder die Drogensucht. Alles verstärkt sich gegenseitig und ohne echte Hilfe finden viele Betroffene aus solchen Situationen nicht heraus. In der Jugend noch gab ihr das Gewichtheben das nötige Selbstvertrauen. Beim Bodybuilding wurde sie beneidet und stand im Mittelpunkt. Anabole Steroide hat Laurer nach eigenen Angaben nie genommen.
Trotz all ihrer Zweifel lief es um die Jahrtausendwende herum aber sehr gut für Chyna in der WWE. Sie war eine Attraktion geworden, wollte sich gar nicht zu den sexistisch präsentierten Frauenwrestlern gesellen. Ihr Gehalt stieg in Millionenhöhe und privat lebte sie in ihrer Beziehung mit Triple H. Beide verbrachten viel Zeit im Fitnessstudio und lebten anders als viele Wrestler frei von Alkohol und Schmerzmitteln. Die Beziehung wurde so gut es ging geheim gehalten, da Laurer auf keinen Fall den Verdacht aufkommen lassen wollte, sie würde sich in der Company hochschlafen. Als dann aber Triple H Kinder wollte und Joanie nicht und sie dann auch noch herausfand, dass er ein Auge auf Stephanie McMahon geworfen hatte, ging die Beziehung zu Bruch und die Frau hinter Chyna fiel bei den McMahons in Ungnade. Bis an ihr Lebensende log sie damit, man hätte sie 2001 herausgeworfen. In Wahrheit lief ihr Vertrag aus und sie wollte einen etwas weniger dotierten von sich aus nicht mehr annehmen.
Von jetzt an lief ihr Leben immer mehr aus dem Ruder. Wrestlerisch hatte Chyna, wie sie seit 2007 offiziell hieß, noch ein paar Auftritte für New Japan und bei TNA, wo sie 2011 auch ihr letztes Match bestritt. Ihre letzte Verbindung zum Wrestling lag in ihrem neuen Partner Sean „X-Pac“ Waltman, der sie von 2003 an on und off begleitete. Ein Jahr später gelangte das Sextape der beiden, „One night in China“, an die Öffentlichkeit, angeblich ohne Laurers Erlaubnis. Sie machte das Beste daraus, erkannte ihren Wert für die Pornoindustrie und drehte wenige weitere Erwachsenenfilme. Auch hier, wie schon bei ihren Aufnahmen für den Playboy Jahre zuvor, dominierte der Voyeurismus, das Oberflächliche. Niemand interessierte sich für einen Blick hinter ihre Fassade. Rückblickend war genau das wohl trotz allen Erfolges der Todesstoß für Joanie Laurer.
Waltman war zu der Zeit der falsche Mann an ihrer Seite, hatte nach einer Scheidung seine eigenen Abhängigkeit zu bekämpfen. Noch heute macht er sich Vorwürfe, Chyna nicht aufgefangen zu haben. Von außen war sie hart und keiner konnte sie zerbrechen, innerlich war sie es längst. Joanie Laurer wird abhängig von Crystal Meth, leidet unter Angstzuständen und Schlafmangel, schlägt Waltman vor seinen Kindern. Kann man einer Drogenabhängigen ihre Sucht vorwerfen? Die Gesellschaft macht es sich oft zu einfach, die „Junkies“ abzustempeln und auszugrenzen, schaut viel zu selten auf die wahren Gründe für exzessiven Konsum. Laurer war keine Heilige, aber sie verdiente Verständnis. 2008 wurde sie kurz nach ihrem Geburtstag bewusstlos mit Schnittwunden an ihren Unterarmen aufgefunden, 2010 mit einer Überdosis Schlaftabletten. 2012 versuchte sie es noch einmal als Englischlehrerin in Japan, trat einer Mormonen-Gemeinde bei, wollte sich ihren Dämonen stellen.
Am 17. April 2016 stirbt dann das neunte Weltwunder an einem tödlichen Mix aus Alkohol, Psychopharmaka, Schmerzmitteln und Schlaftabletten einsam in ihrem Appartement in Kalifornien. Für die nächste Woche hatten Freunde im TV eine Intervention vorbereitet. Nur vier Stunden lang steht Chynas Tod im Mittelpunkt der Medien, dann sickert das Ableben von Sänger Prince durch. Zur Trauerfeier zu Ehren von Joanie Laurer erscheinen nur etwa 400 Gäste, nachdem Chyna einst vor 68.000 Menschen gewrestlet hat. Ihre Mutter ist nicht gekommen, auch von offizieller WWE-Seite ist niemand anwesend. Sean Waltmans emotionale Rede rüttelt auf, aber ändern kann sie nichts: „Ich hätte sie in einer besseren Verfassung zurücklassen sollen, aber ich hab’s nicht getan und jetzt ist sie tot. Ich fühle mich so verdammt schlecht dafür. So schlimm es auch klingt, tief im Herzen wusste ich, dass es so enden würde.“
2019 wird Chyna posthum als Teil von DX in die WWE Hall of Fame aufgenommen. Kurz nachdem ihre Asche im Ozean verstreut wurde, taucht rund um das Boot ein Schwarm Delphine auf.
„Chyna war eine Vorreiterin. Sie hat alle Arten von Barrieren durchbrochen.“ Jim Ross